Zugspitze “Therapie” – Sportklettern am höchsten Berg Deutschlands
Künstler sind ein bisschen verrückt
Das schrieb ich vor einiger Zeit in einem Bericht über die Route „Da Pozzo vecchio pazzo“ an der Tofana Südwand. Dass kreative Erstbegeher mit Künstlern verglichen werden können, passt zur jetzigen Geschichte wie die „Faust aufs Auge“. Im zweiten Satz dazu erwähnte ich aber auch, wer künstlerisch Großes leistet, dem wird oft eine gewisse Verrücktheit zugeschrieben. Auch hier gibt es Parallelen.
Plaisierklettern an der 1000 Meter hohen Wetterwand
Als mir der Allgäuer Markus Noichl, Musiker und Künstler von Beruf, von einer Erstbegehung an der Zugspitze Südwand erzählte, dachte ich an nichts Außergewöhnliches, ist er doch ein guter Kletterer mit großer Erfahrung im heimischen Gebirge. Beide kannten wir uns von gemeinsamen Erlebnissen während der Begehung der „Märmelibahn“ an der Eiger Südwand und der „Moderne Zeiten“ an der Marmolada. Etwas stutzig blickte ich auf sein Topo mit 34 Seillängen, davon mehr als die Hälfte über dem 7. bis 8. Schwierigkeitsgrad. Schier nicht vorstellbar in einer solch chaotisch und brüchig wirkenden Wandflucht.
Offene Fragen
Trotz meinem ersten Eindruck, schwärmte er von „herrlichem Fels“ und einer plaisier mäßigen Absicherung. Weshalb vor ihm noch niemand auf die Idee kam eine moderne Route durch diese tausend Meter hohe und mehrere Kilometer breite Wandflucht zu legen, war auch ihm ein Rätsel. Ist sie doch von Weitem gut sichtbar und einigermaßen leicht zugänglich.
Mein zweites Fragezeichen bezog sich auf den Routennamen „Therapie“, der eher verrückt als einladend klingt…
Auf der Suche nach Antworten
Die beste Antwort bekommt man nur dann, wenn man sich selbst auf den Weg macht.
Also plante ich mit Jürgen Oblinger an einem der heißen Wochenenden im August den Gesamtdurchstieg der Route. Es war die scheinbar letzte Chance des Jahres, da ein langer und stabiler Tag die Voraussetzung für einen Gipfelerfolg ist. Ein weiteres Rätsel bereitete uns der Abstieg. Denn irgendwo zwischen Wetterwand und Plattspitze gäbe es eine Abseilpiste von der niemand genau weiß, wo sie beginnt und ob sie bei Dunkelheit auffindbar ist.
Erster Kontakt mit der Wand
So radelten wir bereits am Vortag, mit großen Rucksäcken bepackt, zur Ehrwalder Alm, dem eigentlichen Ausgangspunkt für unser Unternehmen. Dort angekommen überraschte uns die beeindruckende Szenerie dieser Felsbastion, wie sie so nur noch in den Dolomiten zu finden ist. Doch in welcher Art und Weise hier eine Plaisierroute existieren soll, überstieg unsere Vorstellungskraft bei Weitem. Völlig chaotisch tauchen im Nachmittagslicht auf einmal brüchige Pfeiler und tief eingeschnittene Rinnen auf. Grauer Fels wechselt ununterbrochen mit gelbem Passagen porösen Gesteins, welches sich nach und nach am Wandfuß in Unmengen von Geröll ablagert.
Noch am selben Tag stiegen wir durch eine der vielen Schuttrinnen hinauf zum Einstieg. Und was uns da erwartete, war eine kleine Überraschung. Bei näherem Hinsehen gab es auf einmal kompakte, teils vom Wasser zerfressene Wandzonen, durch die sich Markus Noichl scheinbar inspirieren lies.
Schon in der ersten Seillänge ist ein gutes Auge, sowie ausreichend Stehvermögen gefragt, um eine technische Passage sauber meistern zu können. Ein Auftakt, wie er so nicht zu erwarten war. Nach einigen Metern in meist gutem Fels seilten wir wieder ab und freuten uns auf den kommenden Tag.
Durchstiegsversuch
Bereits um 7 Uhr standen wir wieder am Ausgangspunkt und packten unsere Kletterrucksäcke mit ausreichend Wasser, Erste Hilfe Set, Handy, Windjacke, Müsliriegel und Abstiegsschuhen. Ein Zusatzgewicht, das auf die Dauer im 7. bis 8. Schwierigkeitsgrad nicht zu unterschätzen ist. Doch ohne das Material geht es in einer 34 Seillängen Route halt nicht.
Nach neun Seillängen erreichten wird recht schnell den ersten Pfeiler mit einem Wandbuch, in dem schon einige Eintragungen zu verzeichnen waren. Danach änderte sich der Fels überraschend schnell. Es folgte eine Bruchzone mit unheimlich viel Schutt und absturzbereiten Blöcken. Ein 100 Meter langer Gang auf rohen Eiern bis zum Beginn des zweiten Pfeilers, der nach einer Rinne steil in die Höhe ragt. Auch hier legte der Erstbegeher seinen Kletterweg, teilweise nachträglich, in die besten Felszonen. Ein Vorgehen, das sicherlich sinnvoll erscheint.
Auf Grund der vielen Bohrhaken ist die Routenfindung einfach und relativ gefahrlos, obwohl immer wieder kleine Griffe und Tritte der Schwerkraft folgen.
Die Kletterei zwischen zwölfter und zwanzigster Seillänge forderte uns in volle Zügen, wollten wir doch bis auf die zwei im Topo eingezeichneten A0 Passagen die gesamte Route mit Rucksack im Team „on-sight“ bewältigen. Es lief gut, doch je höher wir kamen, umso splittriger wurde der Fels. So zerbröselte ich an einem Überhang gleich zwei kleine Leisten, die meiner Belastung einfach nicht stand hielten. Sehr ärgerlich.
Die Felsstruktur im unteren Teil war relativ kompakt und ausgeputzt. Doch hier oben, war es nicht mehr ganz so fest. Ein Grund könnte die seltene Begehung ab der 10. Seillänge sein.
Auf dem brüchigen Turm
Nach der zwanzigsten Seillänge erreichten wir einen ausgesetzten, brüchigen Turm mit unzähligen Fixseilen, die wild verstreut in der Wand hingen. Ein Gefühl von Chaos machte sich breit.
Es war 14 Uhr und eigentlich noch genügend lange hell, um weiter zu steigen. Doch was wir sahen war wenig einladend. Entweder ging es über einen einsturzbereiten Felsgrat auf den nächsten Turmkopf oder wir mussten direkt von unserem Standpunkt durch eine sehr steile Schrofenrinne in ein Kar, das den Pfeiler von der Gipfelwand trennt, absteigen. Unsicherheit machte sich breit. Unser ziemlich zerknülltes schwarz/weiß Topo konnte auch nicht Informationen liefern. Die Gipfelwand selbst sah dann wieder beeindruckend steil und lang aus. Der hellgraue Fels versprach vom Weitem ein anspruchsvolles Klettern.
Was tun?
Nach kurzer Abwägung der Unsicherheiten begnügten wir uns mit diesem Teilziel des 2. Pfeilers. Die Suche nach der Abseilstelle und dem erneuten Einstieg für die 300 Meter hohe Headwall hätte womöglich zu viel Zeit in Anspruch genommen. Und für ein gemütliches Biwak ohne ausreichend Wasser waren wir nicht optimal ausgerüstet. Gleichzeitig erinnerte ich mich an meine kleine Tochter, die sehnsüchtig zu Hause auf mich wartete und somit die Entscheidung des Umdrehens verstärkte.
Abstieg
Dreieinhalb Stunden später standen wir wieder am Einstieg und waren uns einig, vorerst nach 20 Seillängen „therapiert“ zu sein. Ob ich jemals wieder kommen werde, um die gesamte Route durchzusteigen, steht in den Sternen. Eigentlich nicht. Doch wer weiß, vielleicht bin ich nächstes Jahr noch verrückt genug, um mir dieses Ziel zu setzen…
Fazit
Die Route „Therapie“ gehört sicherlich zu den großzügigsten alpinen Sportkletterouten der nördlichen Kalkalpen. Wer einen modernen Kletterweg durch solch eine Wand legt, muss ein bisschen künstlerisch und ein bisschen durchgeknallt sein.
Der Fels wechselt von erstaunlich gut bis teilweise brüchig. Die Bohrhaken Abstände von extrem eng bis normal. Mehr als 3 -4 Meter muss man nie vom Haken weg steigen. Somit ist ein angstfreies Klettern garantiert. Keile und Friends können zu Hause bleiben.
Wer an einem Tag bis zum Gipfel steigen möchte, der sollte sich auf ein großes Abenteuer einstellen, das zwar nicht gefährlich ist, aber dennoch ein außergewöhnliches Durchhaltevermögen erfordert.
Die Schwierigkeiten waren anfangs zu tief gestapelt. Durch persönliche Informationen von Wiederholern und mir selbst, konnte ich 2020 ein neues Topo anfertigen. Die obligatorischen Anforderungen würde ich mindestens im 7. bis oberen 7. Grad ansetzen.
Man klettert anfangs im Schatten, sollte aber trotzdem genügen Flüssigkeit dabei haben. Der Tag ist lange und kann im oberen Teil sehr heiß werden. Ebenso könnte ein frischer Wind zu starker Auskühlung führen. Was bei Gewitter dort oben passiert, möchte ich mir gar nicht ausmalen…
Am Gipfelausstieg angekommen, könnte man evtl. am Münchner Haus (DAV Hütte am Zugspitzgipfel) übernachten. Dazu muss man aber einen Schlafplatz ergattern. Der beste Weg führt über die Knorr Hütte zurück zur Ehrwalder Alm (ca. 3 Std.). Eine Abseilpiste zwischen Wetterwand und Plattspitze soll es auch geben. Doch dazu sind die Informationen zu ungenau.
Anmerkung Oktober 2011
Nach zweijähriger Einrichtphase gelang Markus Noichl im Sommer 2010 der erste Gesamtdurchstieg im Rotpunktstil, außer den zwei im Topo angegebenen A0 Stellen.
Nur wenige Wochen später verunglückte er im Klettergarten sehr schwer, dass für ihn, ein Jahr danach, immer noch nicht an klettern zu denken ist. Ich wünsche ihm weiterhin eine gute Besserung.
Anmerkung Juni 2020 Im Jahr 2016 konnte Christoph Langes mit seinem Gefährten bis auf die 7. Seillänge alle anderen Seillängen im Team-Rotpunkt klettern. Es war die 5. Begehung überhaupt. Seine Schwierigkeitseinschätzung floss mit in das neue Topo von 2020 mit ein.
Im Jahr 2018 gelang mir nach ein paar Anläufen der gesamte Rotpunkt Durchstieg am 1. Pfeiler. Somit wurde auch die 7. Seillänge endlich geknackt. Was jetzt noch fehlt, wäre die Eintages- Rotpunktbegehung aller Seillängen im Vorstieg. Ein großes Projekt!
Markus Noichl hat sich nach Jahren wieder einigermaßen erholt und kann seiner Leidenschaft als Musiker nachgehen. Das Klettern hat er auch wieder ganz leicht begonnen.