Grandes Jorasses Nordwand „Colton McIntyre“
Grandes Jorasses – Früher extrem, heute klassisch
Was vor 10 Jahren noch zu den wirklich extremen Routen in den Alpen zählte, gehört heutzutage in die Sparte „Alpin-Klassiker“. Ein guter Trainingszustand, gutes Ausrüstungsmaterial und vor allem das Internet machen dies möglich. Fuhr man früher mehrfach auf Verdacht nach Chamonix oder Grindelwald, um gute Bedingungen anzutreffen, so sitzt man heute vor dem Computer und wartet darauf, bis der Startschuss für die ein oder andere Nordwand fällt. Hat man dann auch noch Zeit und den Partner, dann spricht nichts mehr gegen einen Erfolg. Was sollte auch schon passieren? Vielleicht nur, dass man wegen der vielen anderen Seilschaften auf der Kletterlinie nicht mehr vorwärts kommt und ein Biwak droht, oder man beim „Wettrennen“ für eine gute Ausgangsposition auf dem Weg zur Schlüsselseillänge die Lust verliert.
Inflation ehemals extremer Routen
Natürlich freut man sich die ein oder andere bekannte Route in sein Tourenbuch eintragen zu können. Doch der bergsteigerische Wert der ehemals großen Wandabenteuer sinkt stellenweise in den inflationären Bereich. Die im Internet veröffentlichten Erlebnisberichte mit oftmals akribischen Detail Informationen von Seillängen, Schlüsselstellen, Material, Zeit und Taktik untermauern meine Einschätzung.
Um heutzutage noch ein bergsteigerisches Abenteuer in einsamen Ecken erleben zu können, muss man schon in sehr ungewöhnliche oder extrem schwierige Routen einsteigen. Denn die Masse der Alpinisten läuft meist dort hin wo sie auch durch das Internet hingeleitet wird.
„Last minute“ nach Patagonien
Vor kurzer Zeit wurde ich aufgeklärt wie der moderne Kletterer mit möglichst geringem zeitlichen Aufwand in den sturmumtosten Bergen Patagoniens erfolgreich ist. So sitzt er mit gepacktem Rucksack vor dem Computer und studiert täglich die speziellen Wetterberichte für Seefahrer und Flugzeugpiloten. Zeichnet sich der Trend für ein Schönwetter Fenster in Patagonien ab, wird ein „Last minute Flug“ nach Südamerika gebucht. Der Cerro Torre und der Fitz Roy kann sofort und mit hoher Erfolgsaussicht bestiegen werden. Läuft es optimal, sitzt man nach zwei Wochen wieder zu Hause am Computer und schaut, ob noch vor dem Ende des Kletterurlaubes mit einer Alpen-Nordwand das i-Tüpfelchen drauf zu setzen wäre.
Verschlossene Leschaux Hütte
Als ich heuer im Herbst während eines kleines Kletterrips mit Jürgen Oblinger bei heftigem Regen vor der verschlossenen Leschaux Hütte stand, waren wir nicht nur wegen dem Wetter überrascht, sondern auch deshalb, weil die Hüttenwirtin fehlte. Zum Glück konnten wir den Winterraum nutzen. Doch was machst du da, wenn zu wenig Verpflegung im Rucksack ist? Schließlich waren wir auf Bewirtung eingestellt.
Keine Hüttenanmeldung – kein Übernachtungplatz
Einen Tag später, als der Himmel wieder aufklarte, spazierte die Hüttenwirtin um die Mittagszeit mit Freunden im Geleit zu uns herauf. Auf der Terrasse angekommen, wurden wir mit ihren kritischen Blicken konfrontiert. Auf die höfliche Frage, warum gestern die Hütte verschlossen war, begann sie mit einer nicht erwarteten Sachimpfsalve loszufeuern. Wie könne es sein, dass wir unangemeldet im Winterraum übernachtet hätten. Schließlich müsste man sich per E-Mail oder Telefon ankündigen. Ohne einer solchen Anfrage gäbe es keine Möglichkeit während der Hochsaison auf einer französischen Hütte schlafen zu können. Die Zeiten hatten sich also geändert, obwohl wir uns tags zuvor an der Talstation der Montenvers Bahn erkundigten. Alles kein Problem „die Hütte ist offen“, so der Wortlaut am Infoschalter in Chamonix.
Zehn Seilschaften pro Route
Wir waren völlig überrascht, weshalb man die Leschaux Hütte während der Saison kurzzeitig schließt und es dann auch nicht gerne sieht, wenn man den Winterraum als Notquartier nutzt. Schnell sollten wir alles ausräumen und wieder absteigen, lautete die Aufforderung. Denn auf Grund des Schönwetterfensters wäre die Schlafkapazität für die kommende Nach bereits überschritten. Ein Schlag ins Gesicht. Doch so einfach lies ich mich als Bergführer nicht abwimmeln, bestellte ein Mittagessen und verhandelte während der Zeit des Kochens mit der Chefin weiter. Schließlich war außer uns ja niemand da, weswegen ich dachte, dass uns die junge Französin nur ärgern wolle. Doch dem war nicht so. Denn ab 16.00 Uhr pilgerten auf einmal Kletterer aus ganz Europa zu uns herauf. Bereits um 19 Uhr drohte die Hütte aus allen Nähten zu platzen. Zu unserem Entsetzen stellten wir dann auch noch fest, weshalb die Bergsteiger alle zum gleichen Zeitpunkt hier herauf kamen. Auf Facebook wurden zwei Grandes Jorasses Routen gepostet. Zum einen die „kleine McIntyre“ und zum anderen die „große Mc Intyre“, die auch wir während unserer Alpen Reise durch die Schweiz und Frankreich auf dem Plan hatten. Mit mindestens zehn Seilschaften pro Kletterweg musste man also rechnen. Ein Grund für uns, die Idee einer Begehung der „Colton McIntyre“ zu hinterfragen. Doch kurz vor dem Schlafengehen schnell noch umzuplanen, war bei dem Trubel einfach nicht mehr möglich. So versuchten wir an einer taktischen Lösung zu feilen, um früh morgens nicht im Wirrwarr eines Seilschaftssalates unter gehen zu müssen. Allein schon die bildliche Vorstellung der lauernden Gefahr des Eisschlages, ausgelöst von über uns kletternden Seilschaften, lies uns einen kalten Schauer über den Rücken laufen.
Mit einem ausgetüftelten Plan, bei dem wir nicht ganz sicher waren, ob er sich mitten in der Nacht umsetzen lässt, drückten wir uns zu all den anderen Alpinisten/innen ins Matratzenlager und warteten auf den Weckruf der im Nachhinein doch ganz sympathischen Hüttenwirtin.
Wie es uns gelang, als letzte der 10 Seilschaften von der Leschaux Hütte zu starten und dennoch als erste am Gipfel zu stehen, bleibt unser Geheimnis. Doch eines möchte ich verraten, der Kampf um die „Pole Position“ hätte bei einem Formel 1 Rennen nicht spannender sein können.
Weitere schöne Bilder aus der “Colton McIntyre” von einem bekannten Fotografen aus Chamonix findest du HIER.