Marmolada Klettern – “Moderne Zeiten”

Moderne zeiten – Die schönste Marmolada Route
Die Route „Moderne Zeiten“ an der Marmolada di Rocca gehörte in den Achtziger Jahren zu den schwierigsten Anstiegen an der Marmolada Südwand. Sie wurde im Sommer 1982 von den damaligen Spitzenkletterern Heinz Mariacher und Luisa Iovanne (italienische Kletter-Nationalmannschaft) erstbegangen. Die Schwierigkeiten liegen im oberen VII. Grad. Gemäß den ethischen Vorstellungen der Erstbegeher wurde eine Linie gesucht, in der ohne technische Hilfsmittel geklettert wird (im Gegensatz zur Erstbegehung des „Weges durch den Fisch“, bei der einige Meter mit Hakenhilfe überwunden wurden) und bei der auch alle Standplätze an natürlichen Punkten und aus der Kletterstellung eingerichtet wurden. Heinz Mariacher und Luisa Iovanne brauchten dafür mehrere Tage (mit Ausstieg über andere Routen und Fixseilen). Die ersten und damals ebenfalls berühmten Wiederholer Wolfgang Güllich und Norbert Sandner aus der Fränkischen Schweiz benötigten, auf Grund von schlechtem Wetter zwei Tage. Die „Moderne Zeiten“ wird von vielen Begehern heute noch als die schönste Marmolada Route bezeichnet.

Wolfgang Güllich (ehemals berühmter Sportkletterer) beschrieb seine Zweitbegehung mit Norbert Sandner (staatl. gepr. Bergführer und Extremkletterer) so:

Moderne Zeiten als Ausweichziel

Alltagslethargie. Schlechtes Wetter, keine Motivation. Bis mir ein Erlebnisbericht über eine schier endlose Kletterei in wasserzerfressenen Platten in die Hände kommt und mich alle Frustrationen der vergangenen Wochen vergessen lässt. Der „Weg durch den Fisch“ (VII bis VIII, einige Stellen AO und A1) soll unsere Stimmung wieder aufbessern. Aber es ist noch zu früh im Jahr; wir studieren zwar die Literatur, doch mit jeder neuen Information sehen wir immer mehr, dass für diese Route jetzt noch nicht die Zeit ist: Der Gedanke an vereiste Kaminreihen im oberen Wandteil lässt uns schnell den anderen Leckerbissen in der Südwand ins Auge fassen: „Moderne Zeiten“. Diese Route geht, anders als der „Fisch“, davon aus, dass weder ein Standplatz gebohrt noch Stellen mit künstlicher Kletterei überwunden werden; sie sucht deshalb ihren Weg oft etwas mühsam, zwischen Gogna- und Vinatzer Route. Und weil es uns hier genauso ergeht wie immer, wenn wir den Weg in Gedanken nachgehen, packen wir schon mitten in der Woche aus Sehnsucht nach unserer steinigen „Spielwiese“ unsere Rucksäcke und fahren los.

Sterne am klaren Himmel

 Dem Auf und Ab der Straße entspricht auch unsere Stimmung: Aus strahlend schönem Wetter kommen wir in Regen und Gewitter, sind bald innerlich aufgeweicht. Wenig später aber, kaum ist die Nacht hereingebrochen, stehen Sterne am klaren Himmel. Wir können nur noch hoffen, dass unsere Mägen, aus Frust vollgestopft, bis morgen früh ihre Aufgabe erfüllt haben werden!
Im ersten Tageslicht geht es vorbei an der noch nicht offenen Falier Hütte. Steile, steinhart gefrorene Schneefelder leiten von der Hütte zum Wandfuß. Wenig Sinn habe ich für Norberts Versuche, mit ausgerechnet hier den richtigen „Bergführertritt“ beizubringen – mein Kopf befasst sich jetzt nur noch mit der Wand, mit der ersten Seillänge. Die erfordert aber auch alle Konzentration: Meine Hände und Füße sind so gefühllos kalt, dass allein das Auge bestimmt, was sie zu tun haben. Jeder Zug bedarf einer komplizierten Kalkulation: Wie viel Kraft habe ich noch, wird der Griff halten, der Fuß auf dem Tritt nicht abrutschen? Und das alles muss in einen raschen Bewegungsablauf umgeformt werden. Schließlich aber verzichte ich aufs Ästhetisieren und rampfe mich mit roher Kraft höher.

Die Einstiegsverschneidung als Aufnahmeprüfung

Der erste Standplatz ist schlecht. Zwei Haken halten gerade noch so viel, dass sie durch die Seilreibung nicht herausgerissen werden. Ein Klemmkeil, auch er nicht super, verringert unsere Bedenken auf jenes Minimum, das uns gerade noch weiterklettern lässt. Und weiterklettern muss ich, weil ein Nachholen hier zu gefährlich wäre; nach geglücktem Seilmanöver muss ich weiter, obwohl ein rebellierender Schmerz in den Armen das Gegenteil von mir verlangt. Norbert zeigt dann auf akustische Weise, wie er mit Schmerzen, bedingt durch Kälte, und mit Anstrengungen fertig wird. Geschafft – nicht die Wand, nein, nur die Aufnahmeprüfung. Eine nun folgende leichte Seillänge wird schon bald wieder abgelöst von splittrigem Fels; wir variieren zwei bei allen Kletterern beliebte Themen: das angstvolle Herumtasten und das Suchen nach dem Ausweg in Verhauern. Erst als sich unter der Einwirkung der Sonne auch unsere Psyche erwärmt, wird aus der bedrohlichen Felsmasse das System von silbrig weißen Platten, dessentwegen wir hier hergekommen sind. Wir finden richtige Plattenpfeiler, an denen verschwenderisch vielen Griffen wir uns turnerisch höher hinaufbewegen, eingeschränkt nur durch die Länge des Seils.
Die zunehmende Schwierigkeit empfinden wir mittlerweile nicht mehr als Belastung. Es ist wie im Klettergarten: Das Lösen problematischer Stellen, die Freude über ungewöhnliche Bewegungsabläufe ist es was hier zählt. Unsere kreative Leistung besteht darin, die Griffe zu finden, die einzelnen Stellen richtig anzugehen, Sicherungsmöglichkeiten zu finden, selten einmal geführt von einem steckenden Haken oder einer Sanduhrschlinge. Erst weit oben, am Band, das die Wand auf halber Höhe durchzieht, findet unser Klettern a`la Verdon ein Ende.

Griff- und Trittausbrüche

Nach einer kurzen Rast liegt die Konzentration auf dem nun folgenden Fingerriss, der weniger wegen seiner (herausragenden) Schwierigkeiten zu gesteigerter Adrenalinausschüttung führt, sondern uns durch Griff- und Trittausbrüche erschreckt. Ähnlich vertrauenserweckend wie der Fels sind auch die Haken.- da ist es besser den Hammer gleich zu Hause zu lassen und sich ganz auf sauberes Klettern zu verlegen!
Jetzt gibt uns aber auch das Wetter Anlass zur Beunruhigung; nachmittägliche Wärmegewitter zwingt uns einen Fluchtweg nach oben anzutreten, die Gogna Route.

Einstieg über Gogna – Ausstieg über Moderne Zeiten

 Die folgenden Tage geben uns recht: Das Wetter ist zu schlecht, um zu klettern. Aber weil uns unser unterbrochenes Projekt keine Ruhe lässt, belästigen wir unser heimatliches Wetteramt so lange mit bohrendem Nachfragen, bis wir, drei Wochen später, positive Aussichten vernehmen. Die Fortsetzung heißt dieses Mal: Einstieg über die „Gogna“ , Ausstieg über „Moderne Zeiten“. Die Fortsetzung hält genau das, was die schönsten Seillängen versprochen hatten. Wir sind froh, dass wir diese Genusskletterei, herrliche Griffe, gute Sicherungsmöglichkeiten, nicht einer überstürzten Flucht vor dem Gewitter geopfert haben.

Schlecht gesichert

Das Leben heute ist hart; und hart ist folglich auch die Route „Moderne Zeiten“: Bald schon ist wieder äußerste Konzentration gefragt, schwindeln wir uns um eine überhängende Kante, diesmal gesichert an einer riesigen Sanduhr. Der nächste Standplatz ist in gewissem Sinn die Schlüsselstelle: Nur wer ihn findet, kann die moralisch und klettertechnisch anspruchsvolle Schlusswand angehen. Auch wir suchen volle zwei Stunden, bis uns ein blässliches Schnürchen in einer hauchdünnen Sanduhr als Wegweiser dient. Auch kein überzeugend sicherer Stand! Beim Weiterklettern muss ich immer daran denken, wie schlecht wir beide gesichert sind, was passieren würde, wenn … Aber ich muss durch diese Schlusswand, auch wenn nun keine Freude mehr aufkommt, sondern nur noch der Gedanke an einen festen Keil, an einen stabilen Haken. Unser Verfolgungswahn steigert die Angst und das Tempo; jeden Griff, jeden Tritt verdächtigen wir des baldigen Ausbrechens, und so schnell wie möglich retten wir uns hinauf, bis in eine kleinen Nische, in der zwei solide Standhaken stecken. Jetzt erst schweigen unsere Reden über das mangelnde Verantwortungsbewusstsein der Erstbegeher.
Die letzten, unschwierigen Meter zum Gipfel sind der Abschied von einer Kletterei, die moralische Anforderungen stellt wie die schwierigsten Routen im Elbsandsteingebirge, von berauschender Plattenkletterei, von einer der sicherlich besten Gebirgsrouten. 

Der Mythos verblasst

Heutzutage ist der Mythos um die „Moderne Zeiten“ etwas verblasst. An schönen Wochenenden kann man bis zu zehn Seilschaften in der Route zählen, die aber lange nicht alle am Ausstieg ankommen. Oft wird umgekehrt oder in andere Routen ausgewichen. Denn geblieben ist der Anspruch an die Moral, die Kletterlänge, die Ausgesetztheit und der unvergessliche Eindruck durch diese riesige Plattenwand in absolut freier Kletterei zu steigen.