Die Scheinenfluh Westwand im Rätikon

Heutzutage verirren sich nur selten moderne Sportkletterer in die imposanten Steilwände. Ein Grund ist sicherlich der Abenteuercharakter div. Routen..

Das letzte Kalkgestein Bollwerk 
Ganz hinten im Rätikon, genau gegenüber der Sulzfluh Südwestwand, steht als letztes Kalkgestein Bollwerk die Scheinenfluh. Gleich danach wandelt sich der Fels ins Silvretta Urgestein um. Der Berg bricht von seiner Hochfläche rund 350 Meter überhängend nach Westen ab. Trotzdem liefen die Erstbegeher der Dreißiger bis Mitte Fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts an dieser eindrücklichen Westwand vorbei. Die Nachbarschaft der Drusentürme und der Sulzfluh stellten die Scheinenfluh im wahrsten Sinne des Wortes lange Zeit „in den Schatten“.

Die Scheinenwand 
Die „Scheinenwand“ wie sie oben im letzten Dorf des Tales von den alt Eingesessenen genannt wird, fußt wie von einem Messer durchtrennt, überhängend und glatt auf grünen und saftigen Almwiesen. Die daraus abfließenden Rinnsale befüllen den meist leuchtend blauen Partnunsee im Talgrund. Eine traumhafte Kulisse wie man sie sich in der Schweiz vorstellt.

Mit Normalhaken nichts zu machen 
Im rechten Teil der Westwand durchbricht vom Gipfel gesehen eine große Verschneidung die gelbe Mauer, gestützt von einem grauen Pfeiler mit wenig sichtbarer Struktur. Ein Hindernis das alle damaligen Aspiranten von einer Durchsteigung der Westverschneidung abhielt. Denn mit Normalhaken war da nichts zu machen.

Eine feine Riss Spur 
Nach langem Suchen eine kletterbare Zustiegsvariante in die große Verschneidung zu finden, entdeckten die Schweizer Extremkletterer Max Niedermann und Peter Diener fast zufällig von der gegenüberliegenden Bergseite eine feine Riss Spur die den unteren Teil der „Marmorwand“ durchtrennt. Und zwar genau vom Wandfuß bis zum Ansatz der Westverschneidung. Unvorstellbar aber wahr…

Ein verrückter Plan 
1956 schmiedeten die beiden erstmals den verrückten Plan diese Schnitt-Linie zu erklettern. Von Anfang an traten extreme Schwierigkeiten auf. Teilweise konnten sie weite Stecken nicht oder manchmal nur mit großen Holzkeilen dürftig absichern. Ein Hasardeur Unternehmen mit unsicherem Ausgang. So entschlossen sie sich bereits nach 100 Höhenmetern zur Umkehr. Doch nicht für immer. Denn mit den gesammelten Erfahrungen, speziellen Holzkeilen und mehr geschmiedeten Haken, wollten sie auf jeden Fall im nächsten Jahr wieder kommen…

Eine Sensation
1957 gelang ihnen dann in 26 Stunden reiner Kletterzeit und zwei Biwaknächten der finale Durchstieg. Eine Sensation, die auf einmal die internationale Kletterszene ins hinterste Hochtal des Rätikons lockte. Die nun schwierigsten Route der Ostschweiz und vielleicht sogar darüber hinaus (VI+/A2) wurde bald schon mit großen Dolomitenrouten wie der berühmten „Livanos-Verschneidung“ verglichen.

Die erste Rotpunktbegehung 
Ende der Achtziger Jahre ging es im modernen Zeitalter des alpinen Sportkletterns darum, der „Westverschneidung“ die erste Rotpunktbegehung abzuringen. Wieder kamen die Spezialisten aus allen Landesteilen zum Bergdorf Partnun hinauf, um an alten Holzkeilen, teils brüchigen und nassen Rissen, die neu erlernte Klettertechnik anzuwenden. Ein weiteres Hasardeur Stück an der Scheinenfluh, da weder Fels noch Haken zuverlässig waren.

Schwierigkeitsgrad 7+ 
Der nach vielen Missversuchen endlich geglückte Rotpunktdurchstieg wurde mit max. 7+ eingestuft. Ein Beweißt des damals vorsichtigen Umgangs mit Schwierigkeitsbewertungen.

Mit Wasser voll gesaugte Holzkeile 
Ich kann mich noch genau an meinen ebenfalls sehr waghalsigen Rotpunktversuch 1991 erinnern. An nassen Schuppen und mit Wasser voll gesaugten Holzkeilen zitterte ich von Griff zu Griff, bis ich respektvoll unter dem großen Überhang stand und überlegte, wie dort bei Nässe überhaupt ein Klettern möglich sein soll. Irgendwie klappte es dann doch mit allen Mitteln der Technik und den vorhanden Haken. Ein Abenteuer, das einen erst auf dem Gipfelplateau mit der schönen Aussicht zum weißen Palü und der vergletscherten Silvrettagruppe für den selbst auferlegten Stress belohnte.

Unvorstellbar steile und schwierige Routen
Erst als Ende der Neunziger Jahre Bilder von unvorstellbar steilen und schwierigen Routen durch den zentralen Teil der „Marmorwand“ veröffentlicht wurden, erregte die „Scheinenwand“ erneut Aufsehen in der Alpinkletter-Szene. Wahrscheinlich ähnlich wie damals nach der Erstdurchsteigung 1957. Doch der große „Run“ blieb diesmal aus. Vielleicht auch deswegen, weil im gleichen Zeitraum der Vorarlberger Beat Kammerlander an den nahe gelegenen Kirchlispitzen ebenfalls Klettergeschichte schrieb. Doch dort etwas sonniger und einfacher zu erreichen.

Eine schwierige Kombination 
Mit meinem Kletterpartner Jürgen Oblinger wollte ich mich 21 Jahre nach meinem letzten Besuch noch einmal der Scheinenwand zuwenden. Doch diesmal mit der schwierigen
Kombination aus dem „Kaiserschnitt“ im unteren und der „Westverschneidung“ im oberen Teil. Eine sich nahezu aufdrängende Variante, sofern man mit dem Anforderungsprofil zu Recht kommt. Denn der „Kaiserschnitt“ verlangt den beherzten Vorstieg alla Kirchlispitzen und die „Westverschneidung“ ein sicheres Steigen in teils brüchigem Gelände alla Dolomiten. Was will man mehr von einer fordernden Alpinkletterroute…