Aufbruch zum Mt. Kenia – Ein spannender Vorbericht

Wenn Walter Hölzler seine Hände vor die Sonne hält, wird es dunkel auf der Welt. Es müssen nämlich früher einmal Riesen unter seinen Vorfahren gewesen sein. Nicht dass sie ihm eine übermenschliche Statur vererbt hätten, nein, nein, er ist nicht mehr als ein stattlicher Normalmann. Aber diese Hände, die da aus seinen rot karierten Hemdsärmeln herausschauen, die müssen direkt von den Riesen abstammen. Pratzen sagt man dazu in Bayern, wo er herkommt, Mordspratzen. Was der einmal gepackt hat, lässt er so leicht nicht mehr los; solche Hände geben Sicherheit. Das findet gewiss auch Lena Fakler. Die ist jetzt gerade zur Tür hereingekommen und hat sich in der Wohnstube neben Walter Hölzler aufs Sofa gesetzt, gleich gegenüber dem großen, gemauerten Ofen. Sie hat lange braune Haare und zarte Hände.

Die beiden sind ein Paar, die 31-Jährige und der 42-Jährige, sie leben in einem Bauernhaus mit dunklen Holzschindeln, das an diesem Fleck schon seit mehr als 250 Jahren steht. Es ist ein sonniger Tag heute in Oberstaufen im Allgäu, einer der wenigen wirklichen Sommertage. Eine Woche später wird hier ein kleiner Lastwagen vorfahren, den werden sie mit einer halben Tonne Gepäck beladen, und wenn der Juli zu Ende ist, schließen sie die Haustür ab und kommen einen ganzen Monat lang nicht wieder. Sie fahren nach Afrika.

Dass Walter Hölzler so große Hände hat, ist ziemlich praktisch. Denn er ist von Beruf Bergführer und Extremkletterer, einer der erfolgreichsten Deutschlands. Da ist es gut, wenn man sich richtig festhalten kann. Darauf kommt es schließlich beim Klettern an.

Vor vier Jahren ist er schon einmal in Afrika gewesen, als Trekking-Führer, er hat eine Touristengruppe auf den Kilimandscharo gebracht, den höchsten Berg Afrikas, 5892 Meter. Aber der Kilimandscharo hat ihn nicht besonders interessiert. Weil das eigentlich ein bloßer Wanderberg ist, da kann er seine Hände ja gar nicht gebrauchen. Und zweitens weil er ganz in der Nähe etwas anderes entdeckt hat: den leuchtenden Berg, wie die Einheimischen sagen, Thron des Gottes Kirinyaga, Mount Kenya, 5199 Meter. Es ist an einem Morgen gewesen, als Walter Hölzler ihn gesehen hat, einen einsam aus der Ebene emporragenden Gebirgsstock, die Sonne tauchte die Ostwand in ein rotes Licht, und da wusste er, dass dieser Morgen ein entscheidender Morgen war. Es war der Moment, als der Berg in ihm entstand.

Denn es ist ja keineswegs so, dass Berge einfach vorhanden sind, irgendwo in der Landschaft herumstehen. Nein, Berge entstehen im Auge oder im Kopf des Bergsteigers, ganz klein sind sie am Anfang meistens noch, beinahe zu übersehen; aber dann wachsen sie, werden größer, und manchmal ist es gar so, als spielten sie eine Melodie, unaufhörlich, lauter und immer lauter, eine Melodie, die nicht mehr aus dem Kopf geht. Und auf einmal ist der Berg gar kein Berg mehr, sondern eine Beziehung. Vielleicht sogar eine Herzensangelegenheit.

Mensch, hat der Walter Hölzler an jenem afrikanischen Morgen gedacht, wenn ich wieder zu Hause bin, informiere ich mich mal.

Das Ergebnis dieser Information liegt jetzt auf dem Tisch vor dem Sofa. „Das ist er“, sagt Walter Hölzler und blättert einen dicken Bildband auf. Die Einheimischen haben fast untertrieben, dieser Berg leuchtet nicht nur, er strahlt geradezu. Spektakulär fällt seine Ostwand in die Tiefe, Schwindelerregende 550 Meter hoch, senkrecht, glatt, abweisend. Noch nie hat sich ein Bergsteiger ins Zentrum dieses schroffen Felsaufbaus gewagt. Walter Hölzler wird das jetzt tun: In wenigen Tagen will er diese Wand besteigen, Direttissima, oder wie Kletterer gern sagen: in der Linie des fallenden Tropfens. Mit einer kleinen Expedition, vier Männer, eine Frau, er ist der Expeditionsleiter.

Alles, was er über den Mount Kenya finden konnte, hat er gelesen in den vergangenen Monaten und Jahren, vor allem Berichte im Internet, hat Fotos gesehen, hat sie immer wieder vergrößert: Was ist das für ein Berg? Schon der Normalweg ist kein Kinderspiel, vierter Schwierigkeitsgrad, die geplante Route wird sich im siebten bis achten Grad bewegen, vielleicht darüber. Zum Vergleich: Die berüchtigte Eigernordwand geht auf der klassischen Route über den fünften Grad nicht hinaus. Gerade der untere Teil der Mount-Kenya-Ostwand mit seinen abschreckenden Überhängen hat es in sich. „Aber Genaues weiß ich nicht“, sagt Walter Hölzler. Er hatte ja keine Gelegenheit, die Wand zu studieren, wie man das normalerweise tut, das Zelt am Fuß des Berges aufzuschlagen, den Fels zu belagern, zu beobachten, wo es Steinschlag gibt und wann, mit den Augen in die Rinnen und Runzeln des Gesteins zu dringen, zu erforschen, wo es gangbare Stellen gibt und wo nicht. „Ich versuche etwas, das noch niemand versucht hat.“

Deshalb sind diese letzten Tage vor dem Aufbruch Tage voller Spannung. Wie, wenn die Wirklichkeit alle Berechnungen, Planungen und Vorbereitungen auf den Kopf stellt? Wenn die Wand noch extremer ist als gedacht? 15 000 Euro, so viel kostet die Expedition, wären dann in den Sand gesetzt. Aber Walter Hölzler, dem Schwärmerisches nicht fremd ist, wenn es um diesen Berg geht, der da in ihm entstanden ist, bleibt hier kühl und Realist: „Es könnte schon sein, dass es der Berg nicht zulässt. Die Natur kann einen in seinem Eroberungsdrang auch zurückweisen. Und das ist gut so. Weil wir heute ja meinen, wir könnten alles machen.“

Alles machen. Genau das will Walter Hölzler nicht. Er gehört zu jenen Kletterern, die sich dem bergsteigerischen Ehrenkodex „dem Rotpunktstil“ verschrieben haben. Also nicht zu den berüchtigten Direttissima-Artisten, für die die Bohrmaschine der wichtigste Ausrüstungsgegenstand ist, die Haken um Haken in Halbmeterabständen in die Wand dübeln und sich daran hochsichern. „By fair means“ bedeutet das Gegenteil: Verzicht auf künstliche Steighilfen zum Fortbewegen oder Ausruhen, Haken dürfen nur als Sicherungsanker verwendet werden.

Ob er vorhin das Wort „Eroberungsdrang“ gebraucht habe, fragt Walter Hölzler jetzt. Um Himmels willen, ein dummes Wort. Er ist doch kein Eroberer und jetzt ganz in seinem Element: Er will doch gerade keiner sein, der sich über die Grenzen der Natur hinwegsetzt. Für ihn ist die Natur das Gesetz, das über allem steht, das es zu achten gilt, egal, wie laut der Berg ruft. Nicht erobern also, erforschen wäre ein besseres Wort.

Wobei das mit dem Erobern vielleicht doch nicht ganz so falsch ist, wenn man sich den Walter Hölzler und die erstaunliche Liste seiner Touren einmal ein bisschen näher ansieht. Matterhorn-Nordwand mit 21 Jahren im Alleingang, jüngster Achttausenderbesteiger Europas, da war er 22; den Pumori, 7145m  „Tochter des Mt. Everest“ ebenfalls im Alleingang. Zahllose Klettereien im neunten Grad, Expeditionen in aller Welt, China, Tibet, Nepal, Neuseeland, Peru. Und ganz besonders die „Magic Line“ auf den Südwest-Pfeiler am indischen Baghirathi, sein alpinistisches Glanzstück, das ihm viel Anerkennung in Fachkreisen einbrachte. Acht Jahre lebte er den Traum, zweimal Mal ist er gescheitert, bis es beim dritten Anlauf denn endlich klappte. Lauter Eroberungen. Und ganz am Anfang seiner Karriere war er gar noch Mitglied der deutschen Ski-Nationalmannschaft im Abfahrtslauf. Ein Mann für die härteren Dinge des Lebens.

Lena Fakler kann da nicht ganz mithalten. Der Mount Kenya ist ihre erste Expedition. In den Alpen aber war sie schon viele Male im oberen siebten Schwierigkeitsgrad unterwegs. Aber Klettertechnik ist ja nicht alles bei so einer Expedition. Es geht um mehr. Um Vertrauen. Neulich zum Beispiel, sagt Walter Hölzler, da hat er sich verstiegen, hoch über einer Sicherung hing er da, und plötzlich ging nichts mehr nach vorne und nach hinten auch nicht. Eine fatale Situation, gefährlich. Zu schwitzen habe er angefangen, zu zittern. „Und genau da musst du jemanden dabei haben, der ganz ruhig bleibt, der dir die menschlichen Zeichen gibt, die du brauchst.“ Wenn man die beiden jetzt so vertraut nebeneinander auf dem Sofa sitzen sieht, glaubt man, zu verstehen, was Walter Hölzler damit meint.

Wobei das Schwitzen und Zittern von damals gewiss großen Ausnahmen in Walter Hölzlers Karriere sind. Angst, sagt er, darf es beim Bergsteigen eigentlich gar nicht geben. Höchstens nachts manchmal, wenn die Träume nicht loslassen wollen und zwischen Überhängen, Graten und Rissen herumspuken. Aber am Berg, da haben die Ängste nichts zu suchen. Da sind die Emotionen so gut es geht zu kontrollieren. „Ich bin psychisch sehr belastbar und weiß, wie ich mich in Extremsituationen beruhigen kann. Ich trainiere das über Atemtechnik und Muskelanspannung.“ Deshalb kann er das Risiko, sagt er, kalkulieren. Er sei doch nicht lebensmüde. Im Übrigen habe er einen Ruhepuls von 38.

Welchen Puls Lena Fakler hat, verrät sie nicht. Aber dass sie das mit dem Risiko ein wenig anders sieht, schon. „Die Wahrheit ist doch, dass man beim Bergsteigen die Gefahr gar nicht wirklich kalkulieren kann. Ich muss schon sagen: Ich bin risikobereit. Aber ich weiß, dass ich das schaffen kann, weil ich vor dem Klettern den Berg in mit selbst überwunden habe.“

Um den äußeren Berg zu überwinden, haben die beiden miteinander trainiert. Seit Januar schon. Jeden zweiten Tag sind sie in den Felsen gewesen, haben absichtlich das schlechte Wetter gesucht, das schlechteste. Extremtraining fürs Extrembergsteigen.

Ohnehin geht es im
Allgäuer Schindelhaus schon seit Monaten nicht mehr besonders gemütlich zu. Expeditionsvorbereitungen. Der Countdown läuft. Walter Hölzler steht vom Sofa auf, geht durch die Wohnstube und öffnet die Tür eines Nachbarzimmers. Da ist schon wieder ein Gebirge, ein Gebirge aus Ausrüstungsgegenständen. Zelte und Bergseile, Haken, Karabiner, Klemmkeile, Kocher, Schuhe, Jacken, Medikamente. Das alles muss jetzt mit dem Frachtflugzeug nach Nairobi gebracht werden, dann durch den Zoll. Auch dies eine Unternehmung mit einem gewissen Schwierigkeitsgrad. Danach wird Verpflegung eingekauft, sehr abwechslungsreich wird das Menü am Mount Kenya nicht sein: morgens Müsli, ansonsten meistens Reis. Nach dem Einkauf wird alles mit Jeeps zum Fuß des Berges gebracht. Schließlich geht es mit Trägern zum Basislager, ein Marsch von zwei bis drei Tagen. Dann endlich werden sie diesem Bergwunder ganz nahe sein – Schnee am Äquator, dem einzigen Ort der Welt, wo es in einer solchen geografischen Zone ewiges Eis gibt. 1849 hatte der Missionar Johann Ludwig Krapf den Deutschen von diesem Naturschauspiel das erste Mal berichtet – und wurde ausgelacht: Schnee am Äquator gebe es nicht.

„Noch schlafe ich gut“, sagt Walter Hölzler. Ob das die letzten Nächte bis zur Abreise so bleiben wird? Unwahrscheinlich. Denn ohne Ende kreisen die Gedanken, gehen jedes Stück der Ausrüstung noch einmal durch. Habe ich etwas vergessen, irgendeine Eventualität nicht bedacht, und sei sie auch noch so entlegen? Werden zum Beispiel die Kocher funktionieren bei der hohen Luftfeuchtigkeit am Mount Kenya? Er weiß es nicht, er kann nur hoffen. Sollte die Hoffnung trügen, „dann kann ich gehen, bevor ich angefangen habe“. Die Expedition vor der Expedition ist die schwierigere.

Und natürlich fragt er sich, wie die fünf Kletterer das Wetter auf dem Weg zum Basislager vertragen werden. Die Hitze am Fuß des Berges, tropische Verhältnisse im Mittelteil mit seinem Regenwald, die Kälte in der Höhe mit rapiden Wetterumschwüngen an der Ostwand und gewaltigen Schneestürmen, die die Seile vereisen lassen. 250 Tage im Jahr ist das Wetter dort oben schlecht.

Und was wird noch sein? Akklimatisierung, Essensumstellung, Malaria, Magen-Darm-Erkrankungen? Werden sie überhaupt gesund an die Wand kommen?

Es wird Zeit, dass die Fragen eine Antwort finden. Man spürt jetzt, dass Walter Hölzler am liebsten schon weg wäre aus seiner Wohnstube mit den hellen Dielen, auch weg schon vom Flughafen in Nairobi, dass er sich wünschte, die Zelte im Basislager wären schon aufgestellt und alle Organisation hätte ein Ende. Und dass dieses Bild von einem Berg, dieses Inbild, das in ihm gewachsen ist die ganzen Jahre, endlich auf den Prüfstand der Wirklichkeit kommt. Dass die Idee Gestalt gewinnt. Aus Stein, aus Schnee und Eis. Und von da an wird niemand anderer als die Natur bestimmen, was zu tun und was zu lassen ist. Fünf Bergsteiger und eine Ostwand, das ist alles. „Wenn die Sonne aufgeht, beginnen wir zu klettern“, sagt Walter Hölzer. Und klettern kann er ja. Dafür hat er schließlich seine Hände.

Wolfgang Prosinger im August 2008